
(Quelle: aero-kurier.de)
Am späten Nachmittag des 7. Oktober 1963 rollt N801L, der Prototyp des Learjet Model 23, auf die Piste 19 des Wichita Municipal Airport. Die beiden Triebwerke von General Electric heulen auf, und nach kurzem Startlauf erhebt sich der Jet zum halbstündigen Erstflug. Es ist eine Operation nicht ohne Risiko, denn Computerberechnungen gibt es noch nicht. Den Wunsch der Piloten Bob Hagan und Hank Beaird nach Fallschirmen lehnt Firmenchef William P. “Bill” Lear ab: “Ihr braucht keine Fallschirme, bringt einfach dieses verdammte Flugzeug zurück!”, soll er den beiden um die Ohren geschmettert haben.
Absturz bei Testflug
Das Leben von N801L endet am 4. Juni 1964 in einer weithin sichtbaren Rauchsäule. Ein Pilot der US-Luftfahrtbehörde FAA, begleitet von einem Werkspiloten, startet zu einem Testflug. Der absichtlich mit nur einem Triebwerk durchgeführte Start scheitert an versehentlich ausgefahrenen Spoilern – und der Learjet endet in einem Weizenfeld. Glück im Unglück: Die Insassen bleiben unverletzt und für die klamme Firma ist der Crash ein finanzieller Segen: Von der halben Million US-Dollar der Versicherung kann Bill Lear die ausstehenden Gehälter bezahlen. “Ohnehin war das Flugzeug im metrischen System gebaut. Wir hätten das niemals an irgendwen verkaufen können”, erinnert sich der damalige Chefingenieur Don Grommesh. Mit Prototyp Nummer 2, Kennung N802L, wird die Erprobung zu Ende gebracht, und so erhält der Learjet 23 am 31. Juli 1964 in den USA seine Zulassung. Nur vier Jahre und zwölf Millionen US-Dollar nimmt das Projekt bis zur Zulassung in Anspruch. Bei der Party springt Bill Lear in den Pool und wundert sich, wo seine Unterhose abgeblieben ist. Diese weht tags darauf am Fahnenmast vor dem Firmengebäude. “FAA Certification” steht darauf geschrieben, sagt die Legende.
Business Jet mit Fighter-Genen
Seine Wurzeln hat der Learjet in der Schweiz, wo Bill Lear in den 1950er Jahren sein Avionikgeschäft in Europa voranbringen wollte. Mit einer modifizierten Lockheed Model 18 Lodestar, einer zweimotorigen Propellermaschine, hatte er unter dem Namen Learstar ein erstes Flugzeugprojekt für Geschäftsreisende auf den Weg gebracht. Nachdem das Jet-Zeitalter angebrochen war, entschied sich Lear, das erfolglose Schweizer Kampfflugzeug P-16 als Basis für einen Business Jet zu nutzen. Von fünf gebauten P-16-Exemplaren waren zwei abgestürzt und die Produktion war eingestellt worden. Bill Lear heuerte Konstrukteur Dr. Hans L. Studer und sein Team an und gründete die Swiss American Aircraft Corporation (SAAC), die Mitte 1962 ein Mock-up des anfangs SAAC-23 genannten Jets hervorbrachte. Darüber, wie viel P-16 im ersten Learjet steckt, gehen die Angaben heute auseinander. Sicher ist: Für seine Zeit war der Learjet aerodynamisch extrem “clean”. Der Learjet 23 flog mit 495 Knoten der Konkurrenz davon, bezahlte dafür aber mit Schwächen im Langsamflug. Mit 595 000 Dollar war obendrein der Preis sehr attraktiv. Ein Nachteil war der enge Rumpf.
Umzug in die USA
Nachdem Bill Lear die Entwicklung in der Schweiz zu langsam voranging und er seinen wichtigsten Absatzmarkt in den USA sah, verlegte er den Firmensitz nach Wichita, Kansas, also genau dorthin, wo ab Ende der 1960er Jahre Cessnas Citation-Familie gebaut wurde. Am 15. September 1963 hatte der erste Learjet seinen Roll-out. Sechs Wochen nach dem Erstflug lagen 62 Bestellungen vor. Am 13. Oktober 1964 erhielt der Erstkunde aus den USA einen Learjet 23, das zweite Kundenflugzeug ging nach Deutschland an Harald Quandt. 1966 endet die Produktion des Urmodells nach 101 Auslieferungen.
Lear verkaufte zu dieser Zeit 550 000 Aktien, deren Kurs an der Wall Street durch die Decke schoss. Früh hatte er erkannt, was die Business Aviation ausmacht: Er warb mit Zeitvorteilen und Flexibilität. Zu den Kunden zählte Frank Sinatra, der seinen Learjet 23 unter anderem an Elvis und Priscilla Presley auslieh. Seine Leistungsfähigkeit stellte der Business Jet mit einem Rekordflug am 21. Mai 1965 von Los Angeles nach New York und zurück in zehn Stunden und 21 Minuten mit nur einem Tankstopp pro Strecke unter Beweis.
Die Schattenseiten des Lear 23
Eine Woche nach der Messe der NBAA im Oktober 1965, wo der Learjet 24 vorgestellt wurde, gab es einen tödlichen Unfall, spekuliert wurde über Probleme mit der Elektrik oder der Sauerstoffversorgung. Weitere Unfälle folgten, teils wegen Pilotenfehlern, teils aus unbekannten Ursachen. Bis 2008 gingen 31 Learjet 23 verloren. Model 24 erhielt seine Zulassung nach den neuen Bauvorschriften für Airliner, FAR 25, am 17. März 1966. Weitere Modelle folgten bis 1979. Die Single-Pilot-Zulassung wurde dem Muster wegen seiner Komplexität verweigert. 1966 war auch das Jahr eines weiteren Rekords: Ein Learjet 24 umrundete in 65 Stunden und 39 Minuten den Globus. Insgesamt stellten Learjets bis heute 18 Weltrekorde auf.
Während die Ingenieure am Learjet Model 25 arbeiteten, tobte sich der Chef unternehmerisch aus. Er erfand eine achtspurige Audiokassette, kaufte Brantly Helicopters und verfolgte die Idee eines großen Passagierflugzeugs, doch eine Wirtschaftskrise bremste die Pläne, die Verkäufe brachen ein, die Aktie stürzte ab – und William P. Lear verkaufte die Firma an Charles C. Gates. Noch bis zum 2. April 1969 blieb William P. Lear als Chairman der Gates Learjet Corporation an Bord. Als President stieg ab 1972 Harry Combs ein.
Neuer Rekord
Mit einem verlängerten Model-24-Rumpf sowie einer Gewichtserhöhung schickte der Hersteller im Februar 1968 den Learjet 25 ins Rennen. Wieder bot sich die Gelegenheit, mit einem Rekord auf sich aufmerksam zu machen: In sechs Minuten und 19 Sekunden stieg der Jet auf 40 000 Fuß. 1976 erhielten die Modelle 24E, 24F, 25D und 25F die Zulassung für Flüge bis 51 000 Fuß – ähnlich hoch kletterte nur die Concorde. Der gestreckte Learjet 35 war etwa 35 Prozent effizienter als seine Vorgänger und kam zur richtigen Zeit, als während der Ölkrise in den 1970er-Jahren die Treibstoffkosten explodierten. Noch vor dem Erstflug im August 1973 gab es 60 Bestellungen, die Indienstellung erfolgte 1974. Es folgte die Langstreckenversion Learjet 36 mit 2500 Nautischen Meilen Reichweite. Erneut gab es eine prestigeträchtige Runde um die Welt.
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Das Biest zähmen
Bis dahin stand der Learjet im Ruf eines Hot Rod; er war schnell, aber im Langsamflug mit Vorsicht zu genießen. Das Programm Century III hatte das Ziel, den Langsamflug zu optimieren und gleichzeitig die Start- und Landeleistungen zu verbessern. Die Änderungen flossen in die Modelle 35A und 36A ein. 1979 folgte im zweiten Schritt das Softflite-Programm, das zum Ziel hatte, mit Stall Strips und Grenzschichtzäunen das Handling des Learjets im Langsamflug zu zähmen. Gleichzeitig wurde die Strömung am Flügel bei hohen Geschwindigkeiten optimiert.
Eine aerodynamische Innovation ist für immer mit den Learjets verbunden: Winglets, damals getauft auf den Namen “Longhorns”. Auf der NBAA Convention in Houston, Texas, war 1977 der Prototyp des Learjet Model 28 ausgestellt, der erste Serienjet mit Winglets.
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Stehhöhe im Jet? Geh doch in den Central Park!
Model 28 diente der Erprobung der Flügel für den künftigen Midsize Jet Learjet 55, dessen Longhorn-Flügel vom Learjet 35 abgeleitet waren. Das Konzept sah einen Business Jet mit Kabine in Stehhöhe vor, nicht zuletzt, um der Cessna Citation III etwas entgegenzusetzen. Vergessen waren Lears markige Sprüche wie “Wenn du spazieren gehen willst, dann geh’ in den Central Park.” Dem Erprobungsträger Learjet 28 wurden im Vergleich zum Model 25 eine zumindest theoretisch um 6,5 Prozent höhere Reichweite, kürzere Startstrecken und bessere Steigleistungen attestiert. In der Praxis fehlten die typischen Flügelspitzentanks, sodass die Flugdauer de facto reduziert war. Neil Armstrong, der erste Mann auf dem Mond, stieg im Februar 1979 mit einem Learjet 28 in zwölf Minuten und 26 Sekunden auf 15 000 Meter (49 215 Fuß) und stellte fünf FAI-Rekorde auf. Am 19. April 1979 startete der Learjet 55 zum Erstflug, seine Zulassung erfolgte im März 1981. 1980 wurde der 1000. Learjet übergeben.
US Air Force fliegt auf Learjet
Die Rettung vor dem Konkurs brachte 1983 ein Leasingauftrag des US-Verteidigungsministeriums über 80 Learjet 35A (C-21A). Im militärischen wie im zivilen Bereich bewiesen die Jets derweil ihre Qualität bei Überwachungs-, Forschungs- und Ambulanzflügen. Die Gates Corporation suchte ab April 1986 nach einem Käufer für das Learjet-Programm. Dies war jedoch gar nicht so einfach, denn seit dem 1981 eingeführten Model 55 hatte es keine Neuerungen mehr gegeben. Die Ingenieure steuerten auf zweierlei Weise gegen. Model 55C brachte aerodynamische Veränderungen durch Delta-Finnen am Heck. Entgegen der Order von Charlie Gates arbeiteten sie auch eigenmächtig am Learjet 31, einer Kombination aus Longhorn-Flügel und dem Rumpf des Learjet 35, erweitert um Delta-Finnen. Als Gates im Zuge der Verkaufsverhandlungen das Werk in Wichita besuchte, schob die Belegschaft den 31-Prototyp in eine dunkle Ecke, während sie Model 55C wie einen Christbaum beleuchtet hatte. Gates hielt das neue Flugzeug für ein altes Model 28.
Auf nach Kanada
Am 4. April 1988 entstand unter dem neuen Eigner Integrated Resources wieder ein neuer Firmenname, diesmal schlicht Learjet Corporation. Nach einer Insolvenz Mitte 1989 brachte sich Bombardier in Stellung – jener kanadische Konzern, der bis heute im Besitz der Marke ist. Mitte 1990 war der Handel besiegelt.
Im Oktober kündigte Bombardier den Learjet 60 mit großer Kabine und FADEC-gesteuerten Triebwerken von Pratt & Whitney Canada an. Collins steuerte das Avionikpaket bei. Zudem war Model 60 der erste Learjet, dessen Aerodynamik am Computer optimiert wurde. Gleichzeitig erschien der Learjet 31A. 1992 lancierten die Kanadier außerdem den Learjet 45, ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Learjet, Shorts und De Havilland Canada. Angestrebt waren die Leistungen von Model 35, gepaart mit dem Handling des Learjet 31A und einee Kabine für acht Passagiere. Dem Erstflug 1995 folgte 1998 die Indienststellung. In diese Zeit fiel auch die Auslieferung des 2000. Learjets (1999). 2013 erschienen der Learjet 70 und 75 als Nachfolger der 40/45-Reihe.
2022: Abschied mit dem Learjet 75 Liberty
Ein Fehlschlag war der 2007 angekündigte Learjet 85. Die Kooperation mit Grob Aerospace wurde aufgekündigt, und die Teilefertigung in Mexiko bereitete Probleme. Der Erstflug am 9. April 2014 erfolgte mit massiver Verspätung. 2015 wurde das Projekt “pausiert”, 1000 Mitarbeiter sollten entlassen werden und die Verluste gingen in die Milliarden. Zuletzt produzierte Bombardier nur noch den Learjet 75 Liberty. Er ist der Letzte seiner Art, nachdem der Konzern im Februar 2021 das Ende der Learjet-Produktion bekannt gegeben hatte. 2022 verließ der letzte Learjet das Werk.
Classic Lear Jet Foundation
Der erste ausgelieferte Lear Jet 23 wäre bei all den Ereignissen beinahe in Vergessenheit geraten, hätten nicht die Mitglieder des eigens für seine Rettung gegründeten Verein Classic Lear Jet Foundation (CLJF) das Flugzeug auf dem Bartow Executive Airport in Florida entdeckt. Der Zustand der N3BL: erbärmlich. Dennoch lautet das ehrgeizige Ziel, den Jet wieder in die Luft zu bringen. Am Jahrestag des Erstflugs lädt die CLJF nach Wichita ein, wo Gäste unter anderem den Learjet 23-003 und eine Sammlung von Erinnerungsstücken, Artefakten und Fotos rund um den Jet besichtigen können.
Auferstehung eines Klassikers
Seriennummer 002 hat übrigens einen Platz im Washingtoner National Air and Space Museum erhalten. In Kalifornien stehen zudem die beiden Learjet 23, die weltweit als letzte noch in der Luft waren, bevor sie angesichts großer Wartungsereignisse am Boden bleiben mussten. Um sie wieder in die Luft zu bekommen, sind 200 Arbeitsstunden und Ersatzteile nötig – und mindestens 120.000 Dollar Kapital. Ihr Eigentümer hofft auf einen Geldsegen. Denn dass die “23” wieder fliegen müssen, daran besteht bei den Fans kein Zweifel.