Schallmessung an Bord der Cessna 172: Acht Mikrofone für Charly

(Quelle: aero-kurier.de)

Unser wichtigster Mitflieger hat ein aschgraues, ausdrucksloses Gesicht, das von nicht weniger als acht symmetrisch angeordneten Mikrofonen umringt ist. Er ist schweigsam, pflegeleicht und jammert nicht über Flugangst. Sein Name ist ebenso schmucklos wie sein ganzer Auftritt: HMS II.3 LN HEC, seines Zeichens ein Kunstkopf-Messsystem. Kein Wunder, dass ihm ein paar Vereinskameraden am Flugplatz Bad Neuenahr-Ahrweiler zur Aufheiterung gleich einen Spitznamen verpassen: “Charly”. Seine Aufgabe für unsere heutige Runde um Köln: Er soll für Tonaufnahmen die Mikrofone eines MSA II genannten Arrays in menschenähnlicher Position tragen. Nicht mehr, nicht weniger. Diplom-Ingenieurin Silvia Poschen, die es sich gleich neben Charly auf der Rückbank der Cessna 172 S bequem macht, wird ihren stummen Sitznachbarn unterwegs genau im Blick behalten.

Unsere Highlights

Die Geschichte für diesen Gastflug der etwas anderen Art begann ein paar Monate zuvor bei HEAD acoustics in Herzogenrath bei Aachen. Dort hatte der aerokurier, zum dritten Mal bereits, ein Paket mit aktuellen Headsets abgeladen, um diese im Labor unter wissenschaftlichen Bedingungen vermessen zu lassen. Lightspeed Zulu Delta, Bose A30 und sechs weitere Modelle mussten ihre Qualitäten in Sachen aktiver und passiver Geräuschreduzierung unter Beweis stellen. Grundlage für die Messungen war eine Aufnahme aus dem Cockpit einer Cessna 152, die in originaler Lautstärke in Endlosschleife wiedergegeben wurde. Der Kontakt zwischen der Redaktion und dem Team von HEAD acous-tics, in erster Linie zu Silvia Poschen, war im mehrwöchigen Entstehungsprozess des Testberichts naturgemäß recht intensiv.

Ein wissenschaftlicher Gastflug

Irgendwann muss also die obligatorische Frage kommen, die jeder Pilot in seinem Bekanntenkreis früher oder später stellt: “Magst du nicht mal mitfliegen?” Schließlich kann es ja nicht schaden, wenn die für den Headset-Test verantwortliche Ingenieurin selbst erlebt, wie sich so eine fliegerische Lärmattacke auf die Ohren im echten Leben anfühlt. Der Flug hat natürlich auch einen messtechnischen Hintergrund, denn das Kunstkopf-Messsystem mit der Kennung “Charly” soll mit dem Mikrofon-Array die Fluggeräusche räumlich verteilt um den Kopf herum aufzeichnen. Dies gestattet für zukünftige Tests eine weiter verbesserte räumliche Reproduktion der Flug-geräusche im Labor.

Ein paar Wochen später, Mitte August, treffen Silvia und Thomas, ein weiterer Mitflieger, und ich uns am Flugplatz. Unser Vehikel ist die vereinseigene Cessna 172 S mit der Kennung D-EZLL. Der Plan sieht eine Route über die touristischen Hotspots der Region vor: Über Bonn geht es in die Kölner Kontrollzone, über den Flughafen und die Innenstadt mit dem Dom. Nördlich der CTR drehen wir auf Westkurs zu den Tagebauten, bevor es an Nörvenich vorbei über die Eifel zurück an die Ahr geht. Maximaler Erlebniswert, komprimiert auf eine knappe Stunde Flugzeit. So weit klingt alles nach einem normalen Flug – mit dem Unterschied, dass diesmal vor allem das Flugzeug selbst im Mittelpunkt steht.

Der Lycoming IO-360-L2A unter der Cowling der Cessna leistet 180 PS bei 2700 Umdrehungen pro Minute. Der luftgekühlte Boxermotor konvertiert das Avgas nicht nur in Vortrieb und jede Menge Hitze, sondern auch hervorragend in Lärm. Wie viel Schall davon im Innenraum ankommt, soll unser Flug klären. Für mich als Pilot heißt das erst mal … nichts. Außer vielleicht, dass ich unter verschärfter Beobachtung stehe und auf ein gleichmäßiges Powersetting achten sollte. Wir vereinbaren, dass Silvia von hinten ansagt, wenn sie eine neue Aufnahmesequenz startet. Um uns selbst vor Lärm zu schützen, tragen wir alle drei ANR-Headsets: ein Lightspeed Zulu 3 und zwei Bose A30.

Damit die Ergebnisse auch den wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, verladen wir allerlei Equipment in das Flugzeug, was uns erneut die neugierigen Blicke der anwesenden Vereinspiloten einbringt. Charly, unser Kunstkopf-Messsystem, schnallen wir in zweiter Reihe hinter dem Pilotensitz fest. Thomas auf dem Co-Pilotensitz ist mit einem BHS II, einem binauralen Headset-Mikrofon, für zusätzliche Aufnahmen ausgestattet. Damit soll später bei der Auswertung geklärt werden, ob und wie sehr sich das Fluggeräusch in der ersten von dem in der zweiten Reihe unterscheidet. MSA II und BHS sind an einen mobilen Recorder namens SQuadriga III angeschlossen. Solch ein Equipment kommt auch bei Aufnahmen von Fahrgeräuschen in Automobilen zum Einsatz.

Der Flug selbst ist touristisch und macht auch mir einfach Spaß: Bei top Wetter klappern wir die vorgesehenen Stationen ab, kreisen über dem Dom und werfen einen Blick auf und in den Hambacher Tagebau. Ich achte darauf, nicht zu schnell zu werden, aber auch nicht zu bummeln. Ein moderates Powersetting zwischen 2300 und 2400 Umdrehungen pro Minute entspricht in Höhen zwischen 2000 und 4000 Fuß rund 60 bis 70 Prozent Leistung und resultiert in etwa 105 Knoten True Airspeed. Beim Startlauf liegt Vollgas an. Abweichungen gibt es naturgemäß durch Sink- und Reisesteigflug auf der Strecke. Damit sollte der aufgezeichnete Geräuschpegel in der Kabine auf einem realistischen Niveau liegen. Nach der Landung kommt dann Silvia Poschen auch mit den übrigen Vereinspiloten ins Gespräch, die nun endgültig die Neugierde gepackt hat, was es denn mit diesem Charly auf sich hat.

Fazit: Als Ergebnis bringen wir neue Fluggeräuschaufnahmen für künftige Tests von Pilotenheadsets mit, die auch für eine international verfügbare Datenbank vorgeschlagen werden sollen. Da mehrere Mikrofone zur Aufnahme verwendet wurden, kann das Schallfeld im Labor nun genauer als mit den alten Datensätzen reproduziert werden. Das ist wichtig, damit die Messtechnik weiter mit den implementierten ANR-(Active Noise Reduction-) Algorithmen Schritt halten kann. Da sich der Motor vorne befindet, ist der Pegel des Fluggeräuschs am Kontrollgerät auf dem Co-Pilotensitz etwa zwei Dezibel lauter. Insgesamt ergibt die Messung vorne 90 dB(A) und hinten 88 dB(A). Noch lauter ist der Startlauf bei voller Leistung, wie jeder Pilot aus eigener Erfahrung weiß; hier werden leicht noch mal acht bis zehn dB(A) zusätzlich gemessen.

Unser Tipp an alle Piloten: Zum eigenen Schutz besser immer mit aktivem Headset fliegen.

Hintergrund: Headset-Test im Labor

Acht Headsets mussten sich der Vermessung im Labor bei der HEAD acoustics GmbH in Herzogenrath bewähren. Zum Einsatz kam ein Kunstkopf-Messsystem, das naturgetreues Hören mit zwei Ohren (binaural) ermöglicht. Ein Zwei-Wege-Lautsprecher bildet für die Funksimulation die Schallabstrahlung des menschlichen Mundes nach. Um den Test so realistisch wie möglich zu halten, wurde in der Messkammer eine Wiedergabe-Einrichtung für Hintergrundgeräusche installiert (ETSI TS 103 224), über die eine Tonaufnahme aus dem Cockpit einer Cessna 152 während des Flugs wiedergegeben wurde. Das Fluggeräusch am Ort des Kunstkopf-Messsystems entsprach so nahezu dem Originalgeräusch, dem der Pilot im Cockpit ausgesetzt wäre (Pegel: 84 dB(A)). Um die Lärmdämpfung der Headsets zu ermitteln, wurde als Referenz zunächst der Geräuschpegel ohne Headset am “Ohr” bestimmt. Anschließend positionierten die Fachleute jedes Headset auf dem Kunstkopf und bestimmten erneut den Hintergrundgeräusch-Pegel an den künstlichen Ohren – einmal mit und ohne ANR sowie einmal mit und ohne Sonnenbrille. Die Differenz zum Referenzwert ergab die Dämpfung. Welche Modelle im Labor (und in der Praxis) besonders gut abgeschnitten haben, haben wir im Avionik-Special in der aerokurier-Ausgabe 7/2023 veröffentlicht.

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